Stationäre Expansion 07.08.2017, 10:32 Uhr

Vom Pure Player zum Einzelhandel: Wenn Onliner sesshaft werden

Amazon übernimmt Whole Foods - und ist damit nicht der erste Onliner, der stationär expandiert. Doch gibt es ihn wirklich, den Trend der Pure Player hin zum Einzelhandel?
Amazon goes offline - hier mit einer Buchhandlung
(Quelle: Amazon)
Von Matthias Hell
Für alle, die schon immer wussten, dass der klassische Einzelhandel eine glänzende Zukunft hat, war es die ersehnte ­Bestätigung: Amazon, der weltgrößte ­Online-Händler, übernimmt die Handelskette Whole Foods und wird für den Kaufpreis von 13,7 Mrd. USD mit einem Schlag zum Betreiber von weit mehr als 400 stationären Geschäften. Für den Online-Primus ist die Whole-Foods-Akquisition nicht der erste Vorstoß in den stationären Handel. Auf Pop-up-Stores zum Verkauf eigener Hardware-Geräte folgte Ende 2016 der Konzept-Supermarkt Amazon Go am Unternehmenssitz in ­Seattle und Mitte 2017 schließlich die ­Eröffnung des ersten Amazon Books Store in New York.
Doch wie ernst ist es Amazon mit dem stationären Handel? Will ausgerechnet der Online-Vorreiter zum Retter des angeschlagenen Einzelhandels werden? "Amazon dürfte es bei der Übernahme in erster Linie darum gegangen sein, dass es in der Nahversorgung Depots vor Ort braucht", ist sich E-Commerce-Experte Jochen Krisch sicher. Amazon habe Whole Foods günstiger denn je bekommen und habe sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Auch BWL-Professor Gerrit Heinemann - sonst dem Thema Multichannel nicht abgeneigt - sieht die Whole-Foods-Geschäfte eher als Mittel zum Zweck: "Die Übernahme ist für Amazon besser als der Aufbau einer eigenen Logistik über Jahre hinweg. Auch von der Opportunität her lohnt sich die Übernahme: Amazon erhält den Whole-Foods-Umsatz sofort und das Unternehmen ist ja sehr rentabel."

Zusätzliche stationäre Touchpoints

Trotzdem: Für Amazons Buchgeschäfte und den Pilot-Supermarkt Go greift diese These der zugekauften Logistik zu kurz. Hier geht es eindeutig um zusätzliche stationäre Touchpoints für die Kunden und um die Faszination traditioneller physischer Geschäfte. Deren Anziehungskraft erliegen auch hierzulande immer mehr ­Pure Player: Zuletzt übernahm Zalando den Basketball-Spezialisten Kickz mit 15 Stores und Onliner wie Fashion For Home, Shoepassion.com oder Mymuesli verfügen ­bereits über langjährige stationäre Erfahrung. Grund genug, einige dieser Beispiele genauer unter die Lupe zu nehmen.
Der Müsliversender Mymuesli zählt nicht nur zu den ersten Online-Händlern, die den Schritt in den Einzelhandel wagten, er betreibt mit 54 Stores auch die mit Abstand größte Zahl an Filialen. "Ich sehe uns nicht als Onliner, der dann stationär wurde", bekennt Gründer Max Wittrock. "Wir gehen vielmehr dahin, wo der Kunde ist. Und Lebensmittel möchten viele eben offline kaufen, möchten sie auch probieren. Also lag es für uns nahe, neben einer Webseite auch die eigenen Läden zu ­betreiben und ab 2012 ebenfalls Supermärkte zu beliefern."
Die Kunden von Mymuesli könnten ­dadurch je nach Situation den Kanal der Wahl nutzen. Während individuelle Müslimischungen online bestellt und Fertigmischungen oft in Supermärkten gekauft würden, eigneten sich die Läden gut, um neue Produkte zu platzieren. "Die Kanäle befruchten sich gegenseitig", so Wittrock. Daneben bietet die Multichannel-Aufstellung für den Mymuesli-Gründer einen weiteren Vorteil: Künftig wolle man die über alle Kanäle hinweg gewonnenen ­Daten stärker verknüpfen, um das Kundenverhalten noch besser zu verstehen.

Filialen bringen höhere Warenkörbe

Home24 hat seine Filialen gewissermaßen ähnlich wie Amazon dazugekauft. Allerdings hat der Möbelversender dazu keinen Akteur aus dem stationären Handel übernommen: Die Rocket-Tochter kam durch die Akquisition der Online-Möbelmarke Fashion For Home Ende 2015 auch in den Besitz von sieben Showrooms. Daneben betreibt Home24 seit gut einem Jahr einen eigenen Outlet-Store. Home24-Geschäftsführer Marc Appelhoff beschreibt den ­unterschiedlichen Charakter der jeweiligen Store-Formate: "Das Home24-Outlet bietet eine gute Möglichkeit, Produkte ­anzubieten, die beispielsweise marginale Fehler aufweisen und die wir online so nicht mehr anbieten würden. Wir sehen das als sinnvolle Ergänzung zu unserem Online-Kerngeschäft." Bei Fashion For Home habe man dagegen eine Kollektion, die man nirgendwo probewohnen könne. Die Showrooms ermöglichten es, die Qualität der Produkte und die zur Verfügung stehenden Stoff- und Ledermuster offline erlebbar zu machen - ein von den Kunden gern genutztes Angebot: "Ab einem gewissen Warenwert sind die Kunden sogar ­bereit, extra zum nächsten Showroom ­anzureisen." Dank der stationären Präsenz könne Fashion For Home jetzt auch deutlich höhere Warenkorbwerte erzielen.
Eine Alternative zu aufwendigen eigenen stationären Niederlassungen sind für Onliner Partnerschaften mit etablierten Einzelhandelsakteuren. Der Brillenversender Mister Spex hat genau das getan: Für sein 2011 gestartetes Partnerprogramm hat der Online-Händler mehr als 550 lokale Augenoptiker in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden gewinnen können. Dennoch hat Mister Spex seit 2016 zusätzlich vier ­eigene Stores eröffnet. "Wir taten uns in der Vergangenheit etwas schwer, das Offline-­Erlebnis bei den Partneroptikern für den Kunden weiter zu optimieren, wie wir es bei der digitalen User Experience permanent machen. Eigene Stores waren demnach der nächste logische Schritt, um die Offline-Welt besser zu verstehen und unseren Kunden auch stationär ein optimiertes Kauferlebnis zu bieten", erklärt Mister-Spex-Geschäftsführer Dirk Graber.
Für das Geschäftsmodell von Mister Spex war die Eröffnung eigener Filialen ein entscheidender Wendepunkt. "Wir verstehen uns als Multichannel-Optiker. Die Stores sind ein Teil unserer Gesamtstrategie", macht Dirk Graber deutlich. Dabei wolle man aber keineswegs das Konzept von Ketten wie Fielmann kopieren, sondern eigene Akzente setzen: "Mit unseren Stores brechen wir die Grenzen zwischen On- und Offline-Welt auf", erklärt der Mister-Spex-Gründer, "Das Einkaufserlebnis im Store orientiert sich eng am Online-Prozess, sodass der Kunde nach einem Einkauf im Store im besten Fall die nächste Brille auch online shoppen kann. Wir haben uns sehr bewusst gegen traditionelle stationäre Konzepte entschieden - und der Erfolg beweist, dass dieses neue Konzept ankommt."

Konservative Kräfte setzen sich durch

Ein Signal für den Markt sollte es sein, als die Online-Küchenmarke Kiveda Ende 2014 den 34 Jahre älteren stationären Wettbewerber Küchen Quelle übernahm. Die Potenziale aus dem Zusammenschluss der gut eingeführten Fachhandelskette mit dem innovativen, auf 3-D-Planung und Virtual Reality setzenden Start-up ­lagen auf der Hand: Für Kiveda bot sich die Perspektive ergänzender stationärer Showrooms und Beratungsmöglichkeiten, während Küchen Quelle zusätzliches ­Online-Know-how und technologische Kompetenz gut brauchen konnte.
Zunächst lief auch alles nach Plan und das Unternehmen kündigte die Eröffnung kleinformatiger, mit digitalen Features ausgestatteter Concept Stores an. Doch dann verabschiedeten sich die ehemaligen Kiveda-Chefs aus der Geschäftsführung des Unternehmens. Nach dem Rückzug des ­Investors Seven Ventures, der seit den ­Anfangstagen bei Kiveda engagiert war, übernahmen konservative Kräfte das Ruder. Von der Idee, dass ein gerade zwei Jahre ­altes Start-up durch die Übernahme eines etablierten Wettbewerbers zu einem Quantensprung ansetzt und innovative Technologie in den klassischen Einzelhandel bringt, ist seitdem nicht mehr viel übrig geblieben. Stattdessen fungiert Kiveda in der Selbstdarstellung des Unternehmens inzwischen nurmehr als Technologielieferant ­sowie als Online-Zweitmarke.

Der stationäre Mehrwert ist entscheidend

E-Commerce-Experte Jochen Krisch hat also durchaus recht, wenn er Online-Händler vor allzu optimistischen Stationärplänen warnt: "Einen schlechten Online-Händler werden auch stationäre Präsenzen nicht retten. Und ein guter wird es sich dreimal überlegen, ob er das Risiko eingeht." Letzten Endes ist bei der Eröffnung von Ladengeschäften entscheidend, ob es gelingt, dadurch klare Mehrwerte zum bestehenden Geschäftsmodell zu schaffen.
Während sich das technologisch hoch entwickelte Kiveda damit in der recht konventionellen Küchenbranche schwertut, gelingt das Mymuesli, Home24 und Mister Spex deutlich besser. Diese Händler nutzen die stationären Touchpoints, um ihren Kunden ein wertigeres Einkaufserlebnis zu bieten. Gleichzeitig zahlen die stationären Geschäfte auf die Reichweite und die Bekanntheit der Marke ein. Wie die diesbezügliche Entwicklung im Fall Amazon/Whole Foods aussehen wird, muss sich noch zeigen. Auch Max Wittrock von Mymuesli ist hier gespannt: "Das ist ein Case, bei dem alle Händler interessiert: Wie packen die das an? Was sind die nächsten ­Schritte? Welche neuen Technologien und Ideen wird es in den Läden geben? Wie stark wird Amazon Whole Foods nun prägen?"
Durch die Whole-Foods-Übernahme ist das Thema stationäre Expansion jedenfalls nicht mehr wegzudiskutieren. "Stationäre Händler sind mittlerweile so günstig zu haben, dass das auch in Deutschland nicht auszuschließen ist", meint dazu ­Jochen Krisch. Mister-Spex-Geschäftsführer Dirk Graber antwortet auf die Frage, ob sich sein Unternehmen die Übernahme eines stationären Wettbewerbers vorstellen könne, vielsagend: "Warum nicht?"
Und Mymuesli-Gründer Max Wittrock stellt den Trend der Onliner zum Offline-Handel in einen größeren Zusammenhang: "Ich war gerade in New York City und war echt erstaunt, wie viel da leer steht an Ladenflächen. Ergo sind Konzepte gefragt, die mit dem Kunden und der Zeit gehen. Ich glaube, viele Onliner sind gut im Innovieren und haben gute Ideen für neue Konzepte, die der stationäre Handel definitiv braucht."



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