Digitalisierung 04.08.2021, 09:23 Uhr

Schöne neue Shopping-Welt

Den rein digitalen Store wird es auch in Zukunft nicht flächendeckend geben. Die Digitalisierung ermöglicht es jedoch, eine bessere Einkaufswelt zu schaffen, die neue Technologien und menschliche Qualitäten überzeugend vereint.
Der Verkaufsroboter von Conrad heißt Alex und bedient Kunden in einem 24 Stunden geöffneten Bereich der Filiale in Berlin-Schöneberg
(Quelle: Conrad)
Während einheimische Handelsunternehmen wie ­Metro, Tegut, Bonprix und MediaMarktSaturn die ­Digitalisierung des stationären Einkaufs noch in speziellen Future-Stores erproben, sind andere bereits weiter: In 27 „Amazon Go“-Geschäften können US-Kunden schon heute die Shopping-Zukunft erleben. Wer per App beim Eintritt in ­eines der Geschäfte seine Identifizierung zulässt, kann seine Einkaufstasche nach Herzenslust füllen und danach einfach aus dem ­Laden hinausspazieren. Eine Vielzahl von Kameras und Sensoren verfolgt dann jede Bewegung und erkennt detailliert, welche ­Artikel eingepackt wurden. Verlässt der Kunde den Laden und beendet damit seinen Einkauf, werden die mitgenommenen ­Waren einfach seinem Amazon-Konto in Rechnung gestellt – und das ganz ohne den Einsatz jeglichen Verkaufspersonals.
Auch der weltweit zweitgrößte Online-Händler, Amazons chinesisches Pendant Alibaba, hat seine Vision vom stationären Einkauf der Zukunft in die Tat umgesetzt. Unter dem Namen ­„Hema“ betreibt das Unternehmen in China mittlerweile rund 250 digitale Supermärkte. Zentrales Kunden-Device ist das Smartphone. Mit ihm scannen die Kunden nicht nur die ausgewählten Produkte, sondern rufen auch im Geschäft Produktinfos und Kaufempfehlungen ab. Bezahlt wird ebenfalls mit dem ­Handy – per App und Gesichtserkennung.
Blaupause für das Lebensmittelgeschäft der Zukunft: In den Amazon-Go-Stores ersetzen Sensoren und Kameras die Ladenmitarbeiter
Quelle: Amazon
Die Hema-Stores ­ermöglichen den Kunden nicht nur ein bequemes, mit digitalen Informationen erweitertes Einkaufserlebnis, sie fungieren auch als dezentrale Warenlager für lokale Online-Bestellungen: In ­einem Radius von drei Kilometern um die Geschäfte stellt die Alibaba-Gruppe Einkäufe kostenfrei innerhalb von 30 Minuten zu – an sieben Tagen pro Woche und rund um die Uhr. Doch was ­bedeutet das für die Konsumenten? Zeigen Amazon und Alibaba mit ihren Ladenketten, wie auch in Deutschland bald die schöne neue Einkaufswelt aussehen wird?

Digitale Innovationen haben sich bewährt

Martin Wild, CEO Organic Gardens
Quelle: Organic Gardens
Ein guter Ansprechpartner für diese Frage ist Martin Wild. Bereits als 18-Jähriger legte Wild 1997 die Basis für Home of Hardware, einen der ersten Elektronik-Online-Händler in Deutschland. Später verkaufte er sein Unternehmen an den Medienkonzern Premiere und stieg 2011 bei MediaMarktSaturn ein, wo Wild bald zum Digital-Chef wurde, der den Einsatz vieler neuer Technolo­gien in den Elektromärkten des Unternehmens durchsetzte. Nach einem Sabbatical startet der 42-Jährige nun als CEO von Organic Garden neu durch, einem Start-up, das sich die Produktion und den Vertrieb von Nahrungsmitteln nach einem ebenso innovativen wie nachhaltigen Modell auf die Fahnen geschrieben hat. Noch in diesem Frühjahr soll dazu in München ein erster Store eröffnet werden – natürlich volldigitalisiert.
Im Gespräch gibt sich Wild klar als Digital-Fan zu erkennen. Vieles von dem, was er bei MediaMarktSaturn auf den Weg gebracht habe, sei inzwischen Mainstream: „Omni­channel-Funktionen wie die Anzeige von stationären Verfügbarkeiten, die Online-­Reservierung und die Abholung von Bestellungen im Store sind heute Must-haves.“ Auch Lösungen zum bargeldlosen Bezahlen, Self-Checkout-Kassen sowie hinter den Kulissen der Einsatz von Regal­auffüllrobotern und digitalen Kundenanalyse-Systemen seien weit verbreitet. „Die Corona-Schutzmaßnahmen haben dabei die Einführung von Tools wie digitalen Bezahllösungen oder Einlasssystemen beschleunigt. Die Pandemie wird damit nicht nur für den Online-Handel, sondern auch für die Digitalisierung des Point of Sale zum Katalysator.“
Wie so oft seien es auch hier externe Faktoren, die den technologischen Wechsel auf die nächste Stufe schließlich möglich machten. „Bei vielen Händlern, die sich der Digitalisierung weiter verweigern, wird es fraglich sein, ob sie nach der Pandemie überhaupt noch einmal aufmachen.“ Auch wenn viele Kunden weiterhin das sta­tionäre Einkaufserlebnis und die persönliche Beratung suchten, würden die Konsumenten künftig ein gewisses Grundmaß an digitalen Services einfordern.
Das Smartphone als „Shopping-Fernbedienung“ der Kunden: Am Smart Mirror werden QR-Codes zu Angeboten und Kampagnen eingelesen 
Quelle: Mirrads
Mit der lückenlosen Verbreitung von Smartphones sieht Wild zudem die Voraussetzung gegeben, dass sich in den nächsten Jahren auch in Deutschland automatisierte Ladenkonzepte wie Amazon Go oder Hema etablieren werden. „Mobile versetzt die Kunden in die Lage, alle relevanten Informationen eigenständig abzurufen. Außerdem glaube ich an automatisierte Stores, weil sich damit auch die Öffnungszeiten-Problematik im Einzelhandel umgehen lässt.“ Die große Unbekannte bei der Zukunft des PoS ist für Wild die weitere Entwicklung von Augmented-Reality-Technologien. „Momentan fehlt hier noch das ­geeignete Nutzer-Device. Damit sich AR durchsetzt, wird es eine überzeugende, am Kopf tragbare Lösung geben müssen. Ist diese erst gefunden, kann der Handel das Beste aus beiden Welten vereinen: die gleichzeitige Anzeige von digitalen Infor­mationen und das physische Erleben von Produkten.“

Die Kunden wollen klare digitale Mehrwerte

Wilds Nachfolgerin bei MediaMarktSaturn ist Sonja Moosburger. Als Geschäftsführerin der Innovationseinheit N3XT blickt sie in die digitale Zukunft des PoS, setzt sich aber auch pragmatisch mit dem auseinander, was heute schon machbar ist. Aus ihrer Sicht gilt es bei der Einführung von technischen Neuerungen vor allem die Adaptionsbereitschaft der Kunden im Auge zu behalten. „Der Kunde sucht die Digitalisierung nicht um der ­Digitalisierung willen. Es ist wichtig, dass er von digitalen Lösungen am PoS einen Mehrwert erfährt.“ Gleichzeitig müsse man die damit verbundenen Hürden möglichst gering halten.
Roboter Paul von Saturn hilft Kunden, das gewünschte Produkt zu finden, und scannt nachts die Bestände in den Verkaufsregalen
Quelle: Saturn
„Je weniger der Kunde spürt, dass im Laden etwas anders ist, umso höher ist die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Ebenso hilft es, wenn die Kunden nicht für alles gleich eine Extra-App herunterladen müssen.“ Bei vielen Pilotprojekten habe man zudem beobachtet, dass die Kunden das jeweilige digitale Feature einmal ausprobiert und sich danach nicht mehr dafür interessiert hätten. „Die digitale Erfahrung im Store muss durchgängiger werden, so dass die Kunden Lust bekommen, die einzelnen Features immer wieder zu nutzen“, erklärt Moosburger. Gute Resonanz erhalten habe man vor allem auf Lösungen, die sich um die Themen Instore-Orientierung, Self-Checkout und Beratung drehten. „Auch dass Store-Mitarbeiter mit eigenen mobilen Geräten ausgestattet sind und per Headset zusätzliche Informationen abrufen können, werden wir im Handel immer häufiger sehen.“
Für die nächsten Jahre erwartet Moosburger, dass die Rolle des Smartphones als Einkaufs-Device der Kunden noch deutlich größer wird. „Zudem werden digitale Lösungen auf der Operations-Seite zunehmen, zum Beispiel bei der Regalbestückung, aber auch bei der Analyse von Kundendaten.“ Das volldigitale Einkaufserlebnis sieht Moosburger allerdings noch in weiter Ferne: „Es wird weiter beides ­geben – die Kunden, die schnell per Self-Checkout kaufen wollen, und diejenigen, die beraten werden wollen und die Interaktion suchen. Ein guter Händler muss beides gleichermaßen bedienen.“

Online-Vorreiter setzt auf die klassische Beratung

Der Fachhandelsberatung räumt auch Arnd von Wedemeyer ­einen großen Stellenwert ein. Der Gründer des Elektronikversenders Notebooksbilliger.de (NBB) hat bei der Entwicklung des Ladenkonzepts der mittlerweile sieben NBB-Stores bewusst auf digitale Spielereien verzichtet. „Wir ­haben in unseren Stores Click & Collect und wir nutzen die Bildschirmschoner der ausgestellten Notebooks, um darauf die wichtigsten Produkt­infos darzustellen. Ansonsten setzen wir auf eine möglichst breite Produktauswahl, auf eine gute Warenpräsentation und vor allem auf eine hochwertige Beratung.“
Von Mitarbeiter-Tablets als Verkaufsunterstützung hält von Wedemeyer gar nichts: „Das ist lächerlich, wenn der Verkäufer erst die Bedienungsanleitung durchlesen muss, um mit dem Kundenwissen mitzuhalten! Unsere Mitarbeiter müssen sich ohne digitale Hilfe mit dem Sortiment auskennen, das erwartet der Kunde.“ Technische Features wie In­store-­Leitsysteme oder Self-Checkout findet der NBB-Gründer nur für größere, auf den alltäglichen Kundenbedarf ausgerichtete Geschäfte sinnvoll. „Aber auch dort sind das nur nette Spielereien und nicht der Grund, warum die Leute in den ­Laden kommen. Die Pflicht, das sind das Warenangebot und die ­Beratung, der Rest ist die Kür.“
Der Gründer von Deutschlands umsatzstärkstem Elektronik-Online-Shop ist sich in dieser Einschätzung mit einer Mehrheit der deutschen Konsumenten einig – zumindest, wenn man einer Studie des Technologie­anbieters Diebold Nixdorf glauben darf. Der Hersteller von Zahlungssystemen für den Handel hat in seiner Untersuchung eine ­Typologie der Adaptionsbereitschaft der Konsumenten entwickelt, die je nach Land unterschiedlich ausfällt. In Deutschland machen demzufolge „Well-Balanced Traditionalists“ den höchsten Anteil aus – Konsumenten, die bei ihren Einkaufsbedürfnissen eher konservativ ausgerichtet sind und technische Neuerungen nur dort annehmen, wo sie unmittelbar einen greifbaren Vorteil bieten.

Herausforderung vor allem für den Mittelstand

Die konservative Grundeinstellung, die deutsche Kunden und Händler gleichermaßen an den Tag legen, hat auch Peer Hohn erfahren. Mit seinem 2014 gegründeten Start-up Phizzard ent­wickelte er eine innovative Lösung für den Fashion-Handel, die auf smarten Spiegeln, Touchscreens und ­Tablets basierte und den Kunden Informationen zu Verfügbarkeiten, Größen und Produktvarianten ­zugänglich machte. 2017 ­wurde Phizzard von der Schuhhandelskooperation ANWR übernommen, die aber nur an einer simplen Lösung zur digitalen Regalverlängerung interessiert war.
Heute ist Hohn Geschäftsführer bei dem auf Software- und RFID-Lösungen (Radio Frequency Identification Device) für die Industrie spezialisierten Technologieanbieter Sys-Pro und blickt mit gemischten Gefühlen auf das Thema Handelsdigitalisierung zurück: „Wenn man betrachtet, wie viele Händler noch nicht einmal ­einen Online-Shop haben, ist das Thema Digitalisierung am PoS eher zweitrangig.“ Dabei sei technologisch vieles machbar und auch durchaus sinnvoll. „Mit RFID beispielsweise können Händler endlich detailliert verfolgen, wo auf der Fläche oder im Lager sich die Ware befindet. Und Kunden können über RFID-Chips im Label auf passenden Smart Mirrors oder Touchscreens Informationen zu den Artikeln abrufen – vor allem für fremdsprachige Kunden, wie etwa Touristen aus Asien, ist das ­eine große Erleichterung.“
Mit interaktiven Displays können Kunden beim Einkauf Unterstützt werden
Quelle: Fit Ztudio/Shutterstock
Doch die Nachfrage nach solchen ­Lösungen beim Handel sei jenseits der großen Ketten noch ­immer recht dünn gesät. „Die Organisationen im Handel sind oft sehr konservativ. Da wird schnell die Frage gestellt: Welchen ­Anreiz, welche Motivation ­habe ich für die Digitalisierung? In vielen Fällen ist das auch ein Generationsthema, wo erst die Erben der Gründer das nötige Verständnis aufbringen.“
Die Problematik der zögerlichen Veränderungsbereitschaft des Handels kennt man auch beim Branchenverband HDE, der rund 400.000 Einzelhändler vertritt, 98 Prozent davon Mittelständler mit weniger als 50 Mitarbeitern. „Ich bin überzeugt, dass die Digitalisierung des PoS Mehrwerte für die Kunden bietet“, erklärt HDE-Hauptgeschäftsführer Stephan Tromp, „aber für den Mittelstand bedeutet das auch eine extreme Herausforderung, weil hier meistens das nötige Know-how und die finanziellen Ressourcen fehlen.“
Zusammen mit den Handelsforschungsinstituten EHI Retail und IFH Köln hat der Verband jetzt deshalb das „DigitalNavi Handel“ veröffentlicht. „Unser Ziel ist es, damit einen Überblick zu bieten, welche Möglichkeiten zur Digitalisierung es eigentlich gibt. Damit bringen wir auch Mittelständler in die Lage, das ‚Big Picture‘ zu sehen.“ Features wie elektronische Preisschilder und Self-Checkout seien vor allem für Filialisten mit den entsprechenden Ressourcen zur Skalierung geeignet. Für mittelständische Händler biete sich dagegen zum Beispiel ­eine Tablet-Lösung an, mit der Verkäufer auf der Fläche nicht vorrätige Größen bestellen oder Informationen zu passenden Zubehörartikeln abrufen könnten. „Kein mittelständischer Händler wird sich zu hundert Prozent digitalisieren, aber jeder kann seine individuelle Herangehensweise an das Thema finden“, erklärt Tromp.
Seine ganz eigene Vorstellung, wohin ein solcher individualisierter Weg der Digitalisierung führen kann, hat Benjamin Brüser. Der ausgebildete Architekt gründete 2011 zusammen mit einem Geschäftspartner ­„Emmas Enkel“, eine kreative Mischung aus Tante-Emma-Laden, Online-Lebensmittel-Shop und Café. Vor allem Innovationen wie eine QR-Code-Bestellwand und die Verknüpfung von Ladenlager und Online-Logistik sorgten in der Lebensmittelbranche für Aufsehen. Die Übernahme durch die Metro-Gruppe 2016 sollte eigentlich die Expansion von Emmas Enkel befördern. Stattdessen schloss der Handelskonzern erst die Laden­geschäfte und dann auch den Online-Shop des Start-ups.
2019 ­feierte Emmas Enkel unter dem Dach von Real eine Wiedergeburt als automatisiertes Lebensmittelgeschäft. Doch mit dem Real-Verkauf folgte 2020 das endgültige Aus. Gründer Brüser ist bereits 2016 bei dem Unternehmen ausgestiegen und versucht seitdem, sein Engagement als Architekt und als Innovationsberater für den Handel zu vereinen. „Die Digitalisierung bietet die Möglichkeit, die Innenstädte wieder nach einem menschlicheren Maßstab zu denken“, erklärt er. Ausschließlich über den Produktverkauf könne der Einzelhandel im Zeitalter des E-Commerce nicht mehr wirtschaftlich funktionieren. Ausschlaggebend seien vielmehr flankierende Services, die ­sowohl von den Menschen im Handel wie auch digital erbracht würden. „Es geht dabei um eine Mischung aus E-Commerce, digitalen Kundenlösungen und der Inspiration und Beratung vor Ort“, erklärt Brüser. „Ich habe gute Hoffnungen, dass hier in den nächsten zwei bis drei Jahren einiges passiert. Gerade in der Zeit nach Corona können gute neue Konzepte voll durchstarten.“ 



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