Gastkommentar
22.06.2017, 09:01 Uhr
Geschäftsidee Marktplatz oder der Traum vom digitalen Glück
Marktplätze zu gründen ist im deutschen Handel gerade mächtig en vogue. E-Commerce-Professor Gerrit Heinemann kann darüber nur fassungslos den Kopf schütteln. Dass diese Vorhaben erfolgreich werden, ist seiner Meinung nach mehr als fraglich.
Von Gerrit Heinemann, Leiter des eWeb Research Center an der Hochschule Niederrhein
Kein Tag vergeht, an dem nicht ein deutscher Händler auf die geniale Idee kommt, einen Marktplatz zu gründen oder zu übernehmen. Ob Intersport oder Rewe, Real oder Edeka, Otto oder Karstadt, sie alle träumen den Traum vom Marktplatz. Und vielleicht damit auch den Traum vom grenzenlosen digitalen Glück, das mit der Rentabilisierung des eigenen Online Shops oder gar der Wiederbelebung unproduktiver Warenhaus-Flächen mit einem Marktplatz einhergehen soll. Der Traum erinnert an eine eierlegende Wollmilchsau, die – mit Erfolgsgarantie – noch Gold spuckt. Schließlich macht Amazon es ja vor. Und immerhin mehr als ein Drittel aller Online-Umsätze in Deutschland werden auf Marktplätzen erzielt.
Die Erfolgsformel klingt denkbar einfach: Partner akquirieren und an Bord bringen, Hand aufhalten und fertig! Dadurch lässt sich mal eben das Sortiment vergrößern, ohne zu investieren oder eigene Warenrisiken einzugehen. Da hätten die Händler auch schon früher drauf kommen können. Geht doch so einfach. Oder liegt hier nur eine Fata Morgana des "terrible simplificeurs" vor?
Erfolgreiche Marktplätze sind das Schwierigste, was man online gründen kann
Völlig im Kontrast zum Traum vom schnellen Marktplatz-Glück ist das, was die Erfahrung aus der VC-Szene sagt. Marktplätze erfolgreich zu starten, gilt unter Inkubatoren gemeinläufig als mit das Schwierigste, was man im Internet versuchen kann. Und ohne eine extreme Spezialisierung oder einen dem Marktplatz vorausgehenden und später ergänzenden Frequenztreiber gelten derartige Modelle alles andere als erfolgsträchtig. Das Scheitern der Wiederbelebungsversuche der Marke Quelle.de auf dem deutschen Markt als "Marktplatz für Elektronik-Artikel" dürfte nicht zuletzt darin eine Hauptursache haben.
Erfolgreiche Marktplätze wurden deswegen eigentlich auch nicht als "Pure Marktplatz", sondern immer in Kombination mit einem "Killer-Feature" und "Killer-Services" angeboten. Und zwar echten und nicht vermeintlichen, wie insbesondere alleswissende Handels-Manager vielfach meinen, die es nicht selten auch besser wissen als die E-Commerce-Szene mit ihrer bloß zwanzigjährigen Nachkriegs-Erfahrung. Ebay konnte den Marktplatz nur über das Auktionsgeschäft aufbauen. Amazon bietet mit nahezu 300 Millionen Produkten die mit Abstand größte Sortimentsauswahl an (zum Vergleich: das "KaDeWe" kommt geschätzt auf maximal eine Million Produkte) und gilt als "Produktsuchmaschine", die mittlerweile mehr produktbezogene Suchanfragen generiert als Google.
Auch Dawanda sowie Etsy bieten als virtuelle Marktplätze unvergleichbare "Killer-Produkte" an, ohne die ihre Marktplatzaktivitäten nicht möglich gewesen wären. Insofern wird empfohlen, die Geschäftsidee vom Marktplatz und grenzenlosen digitalen Glück noch einmal ganz genau zu überlegen und zu prüfen - mit einer von ausgewiesenen und nicht selbstbestimmten Digitalexperten abgesegneten Business-Planung.
Reichweite: Woher nehmen, wenn nicht stehlen
Neben Killer-Features und Killer-Services entscheidet dann noch die Frequenz über Erfolg und Misserfolg eines Online-Marktplatzes. Realistisch betrachtet bietet hier in Deutschland derzeit vermutlich nur Zalando ausreichend Potenzial. Doch in den Kundenstamm von mehr als 20 Millionen aktiven Kunden ist auch der größte Teil der milliardenschweren Aufbauinvestitionen geflossen.
Ein anderes Beispiel ist eBay: Bezogen auf die Marktplatzfunktion kann ein Marktplatzpartner laut Statista-Zahlen von 2013 bei Ebay auf ein Frequenz-Potenzial von rund 3,5 Milliarden Visits im Jahr stoßen. Diese Traffic-Leistung von Ebay ermöglicht Händlern erfahrungsgemäß einen attraktiven Zusatzumsatz, der bei vergleichbarem Aufwand - mit Ausnahme von Amazon - bereits bei allen anderen Marktplatzalternativen deutlich niedriger ausfällt.
Neue Marktplätze müssten also massiv in Werbung investieren, um schnell eine relevante Reichweite aufzubauen. Doch hier ergibt sich schon das nächste Problem. Denn durch Werbung generierte Reichweite wirkt nur dann nachhaltig, wenn es beim Besuch des Portals keine Enttäuschung über das Sortiment gibt.
Damit droht ein Teufelskreis: Denn wieso sollten potenzielle Marktplatzpartner selbstlos neue Marktplatzalternativen anfüttern, wenn diese noch keinen attraktiven Reichweiten bieten können. Zumal eine Marktplatz-Präsenz von den Handelspartnern in der Regel erfordert, ihre Produktdaten in ausreichender Qualität und Quantität für das jeweilige Portal aufzubereiten, was zusätzliche Ressourcen neben dem Tagesgeschäft verschlingt.
Fazit: Um einen Standalone-fähigen Shop führt kein Weg vorbei
Ein weiteres Problem ist, dass "angegliederte" Online-Marktplatzmodelle häufig den Ansatz verfolgen, keine Konkurrenten und ihre Produkte zu präsentieren. Die Präsenz von anderen Filialisten gleicher Warengattung wird äußerst kritisch gesehen, obwohl diese vielleicht die Magneten für den Marktplatz sein könnten. Bei Verzicht auf Konkurrenz und einer zu starken Begrenzung des Angebots droht einem Marktplatz zusätzlich das schnelle Scheitern. Den Kunden fehlt ein ausreichend großes Sortiment - und damit der Anreiz, das Portal zu besuchen. Zudem zeigt sich häufig, dass Händler auf ihren Marktplätzen dieselben Produkte anbieten wie Amazon und Ebay - in der Regel allerdings teurer als diese.
Was also tun? Auch wenn stationäre Händler und Verbundgruppen es nicht glauben wollen und der Traum vom schnellen digitalen Glück vielleicht den Blick auf die Realität etwas vernebelt: Um einen exzellenten und standalone-fähigen Online Shop führt kein Weg und keine Investition vorbei. Erst danach wird dieser marktplatzfähig, so wie es jetzt gerade erst Zalando und vielleicht Otto sein dürften.