Offener Brief an Bundestag
14.04.2021, 09:08 Uhr
HDE will Änderung des Infektionsschutzgesetzes kippen
Bevor der Bundestag die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes verabschiedet, hat der Handelsverband Deutschland (HDE) die Bundestagabgeordneten in einem offenen Brief vor Verschärfungen für den Einzelhandel gewarnt.
Ausgangsbeschränkungen, geschlossene Läden, Testpflicht an Schulen: In weiten Teilen Deutschlands müssen sich die Menschen auf strenge Lockdown-Maßnahmen nach bundesweit verbindlichen Vorgaben einstellen. In allen Kreisen und Städten mit hohen Infektionswerten soll es Einschränkungen geben. Entsprechende Änderungen des Infektionsschutzgesetzes hat die Bundesregierung jüngst beschlossen. Ziel ist die bessere Eindämmung der Corona-Pandemie. Kommende Woche sollen die Neuerungen vom Parlament beschlossen werden und dann den Bundesrat passieren - trotz deutlicher Kritik einiger Länder, der Opposition im Bundestag und den Verbänden.
"Wir setzen die Notbremse bundesweit um", sagte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) zu ihren Plänen. "Die Unklarheiten, was in dem einen oder anderen Landkreis wann gilt oder was wann nicht gilt - das ist dann vorbei." Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) erklärte nach dpa-Informationen in der Sitzung der SPD-Fraktion, die Bürger blickten nicht mehr durch bei den Corona-Regeln. "Ziel des Gesetzentwurfs ist es, klare und einheitliche Regeln zu schaffen und die Grundlage zu legen, dass die Notbremse bei Inzidenzen über 100 konsequent gezogen wird."
Die nächtlichen Verhandlungsrunden von Union, SPD und Bundesregierung hatten zwar einen kabinettsreifen Beschluss geliefert, die Gespräche im Bundestag gehen aber weiter. "Die nächsten Tage nutzen wir, um die bundesgesetzlichen Maßnahmen widerspruchsfrei und verfassungsfest auszugestalten", sagte der rechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jan-Marco Luczak (CDU), der Deutschen Presse-Agentur.
Vorgesehen sind nun unter anderem Ausgangsbeschränkungen. So soll von 21.00 bis 5.00 Uhr der Aufenthalt außerhalb einer Wohnung oder eines dazugehörigen Gartens im Grundsatz nicht erlaubt sein, wobei es Ausnahmen gibt. Gelten sollen diese und andere Beschränkungen, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz über 100 liegt. Das bedeutet, dass binnen einer Woche mehr als 100 Neuinfizierte auf 100 000 Einwohner kommen.
Dieser Punkt ist allerdings umstritten. "Im weiteren Verfahren werden wir nochmal intensiv prüfen, dass neben dem Inzidenzwert weitere Kriterien herangezogen werden", kündigte SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese an. Auch die FDP hat hier Bedenken. Die Inzidenzzahl bilde die Lage vor Ort nicht ausreichend ab, sagte FDP-Chef Christan Lindner. Wenn es in einem Landkreis einen isolierten Ausbruch etwa in einem fleischverarbeitenden Betrieb gebe, dann werde laut Gesetz noch dutzende Kilometer entfernt auch geimpften Menschen der Abendspaziergang verboten.
In einem neuen Paragrafen 28b des Infektionsschutzgesetzes soll ferner festgelegt werden, dass private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum dann nur gestattet sind, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich dazugehörender Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnehmen.
Unter anderem dürfen bei einer höheren Inzidenz zudem die meisten Läden und die Freizeit- und Kultureinrichtungen sowie die Gastronomie in der Regel nicht öffnen. Übernachtungsangeboten zu touristischen Zwecken sollen bei entsprechenden Inzidenzen in einer Region untersagt sein.
Auch die Grünen reagierten enttäuscht. "Was wir jetzt vorgelegt bekommen haben, ist ein Notbehelf für eine Notbremse", sagte Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Sie vermisste insbesondere schärfere Vorgaben für die Arbeitswelt, mit weiterreichenden Vorgaben für das Homeoffice und Pflichttests, sowie mehr Schutz für Kinder und Jugendliche. Bereits ab einer Inzidenz von 100 müsse der Präsenzunterricht zurückgefahren werden.
Lebensfremd sei auch, dass bei den Regelungen zur Kontaktbeschränkung nicht zwischen Begegnungen in Innenräumen und an frischer Luft unterschieden wird, sagte Göring-Eckardt. Erst tags zuvor hatten führende Aerosol-Forscher darauf hingewiesen, dass Sars-CoV-2 fast ausnahmslos in Innenräumen übertragen wird.
Auch der Verband Bildung und Erziehung (VBE) kritisierte die geplante Corona-Notbremse für die Schulen als unzureichend. "Für alle anderen Bereiche gilt die Notbremse ab 100, im Bildungsbereich kann bis zur doppelten Inzidenz Unterricht vor Ort stattfinden", stellte der Gewerkschaftschef Udo Beckmann fest. "Für diese Abweichung fordern wir eine wissenschaftlich belegbare Begründung und die Festlegung von Maßnahmen, die zusätzlich bei Inzidenzen zwischen 100 und 200 zu ergreifen sind."
Bevor der Bundestag das neue Infektionsschutzgesetzes verabschiedet, hat Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer beim Handelsverband Deutschland (HDE), die Bundestagabgeordneten in einem offenen Brief vor unverhältnismäßigen Verschärfungen für den Einzelhandel gewarnt. Der offene Brief des HDE in vollem Wortlaut:
Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
in dieser Woche wird der Deutsche Bundestag über eine erneute Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu entscheiden haben. Uns liegt hierzu die Formulierungshilfe der Bundesregierung für die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD (Bearbeitungsstand 10.04.2021, 12.50 Uhr) vor, zu der wir als eine der vom Lockdown hauptbetroffenen Branchen nachfolgend Stellung nehmen möchten.
Wir begrüßen ausdrücklich die mit diesem Gesetzentwurf verfolgte Zielsetzung, das Infektionsgeschehen einzudämmen und oberhalb von Inzidenzwerten von 100 in einzelnen Landkreisen dort bundeseinheitliche Maßnahmen zu definieren, die auch zur Bekämpfung nachweislicher Infektionsherde etwa im privaten Rahmen geeignet sind.
Allerdings ist für uns in keinster Weise nachvollziehbar, dass im aktuellen Gesetzentwurf zu § 28 b (1) Ziffer 4 für den Einzelhandel Regelungen vorgesehen sind, die weit über die Bund-Länder-Beschlüsse vom 22. März und den Status quo vor dem 7. März hinausgehen und für den Handel gravierende weitere zusätzliche Beschränkungen implizieren.
So würde die im Lebensmittelhandel und dem Handel mit Gütern des täglichen Bedarfs bislang geltende Kundenbegrenzung drastisch verschärft und die maximal zulässige Kundenzahl halbiert. Auch würde die in einigen Bundesländern eingeführte Test-Option durch die im Gesetzentwurf vorgesehenen Reglungen ersatzlos gestrichen. Und selbst die unter Infektionsgesichtspunkten völlig unproblematische Möglichkeit von Click & Collect wäre nicht mehr möglich.
Angesichts der Tatsache, dass vom Einzelhandel nachweislich keine erhöhte Infektionsgefährdung ausgeht (vgl. u.a. ControlCOVID-Strategie und Handreichung des Robert Koch-Instituts; Studie „Abschätzung der Infektionsgefährdung durch Corona im Einzelhandel; Studie der TU Berlin), sind die im Gesetzentwurf vorgesehenen zusätzlichen Beschränkungen des Einzelhandels völlig unverhältnismäßig und unter dem Gesichtspunkt der Pandemiebekämpfung auch nicht zielführend.
Im Einzelnen möchten wir Sie im weiteren Verfahren um Berücksichtigung der folgenden Punkte bitten:
1. Keine weiteren Beschränkungen des Einzelhandels im „Notbremsfall“ gegenüber dem Status quo oder sogar gegenüber dem Reglungszustand vor dem 7. März 2021, dies bedeutet konkret:
- eine Kundenbegrenzung von 10 Quadratmeter/Kunde
- die von Inzidenzen unabhängige Öffnung der sogenannten privilegierten Geschäfte: Lebensmittelhandel sowie Direktvermarktung, Getränkemärkte, Reformhäuser, Apotheken, Babyfachmärkte, Drogerien, Tankstellen, Buchhandlungen, Tierbedarfsmärkte, Futtermittelmärkte, Blumenfachgeschäfte und Gartenmärkte
- Öffnungsmöglichkeit für alle Geschäfte in Abhängigkeit der Intensivbettenauslastung und der Inzidenzwerte nach RKI-Empfehlung
- in jedem Falle muss unabhängig von Inzidenzen die Abholung bestellter Waren auch im Falle der Schließung von Geschäften möglich bleiben (Click & Collect)
2. Öffnungsklausel für länderspezifische Regelungen, die im nicht privilegierten Handel Einkauf nach Terminvereinbarung bei Vorlage eines tagesaktuellen negativen Tests vorsehen.
3. Einkaufen nicht nur mit einem negativen Test, sondern auch mit einer Impfbescheinigung (statt negativem Test) ermöglichen, um den gesamten Handel ohne Einschränkungen nutzen zu können.
4. Sollten tatsächlich strengere Beschränkungen auch im wirtschaftlichen Leben erfolgen, dürfen sich diese dann nicht mehr nur auf die bislang betroffenen Branchen erstrecken, sondern müssen alle Bereiche erfassen, die nachweislich einen Beitrag zum Infektionsgeschehen leisten. Wir möchten Sie eindringlich bitten, unsere Argumente bei den anstehenden Beratungen zu berücksichtigen und sich bei der Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf erforderliche und nachweislich geeignete Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung zu beschränken.
Sollte es dennoch zu weiteren Schließungen des Handels kommen, ist eine angemessene finanzielle Entschädigung erforderlich, die über die bisherigen Wirtschaftshilfen hinausgeht. Ansonsten werden tausende von Unternehmen mit ihren hunderttausenden Beschäftigten diese Krise wirtschaftlich nicht überstehen. Sehr gerne stehen wir Ihnen für weitere Rückfragen und jede Form des Austauschs zur Verfügung!
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Genth